Karas (Anime Kritik): Rückkehr des urbanenen 2,5D-Mythos (2024)

Was schenkt man einem Anime-Studio zum Geburtstag? Als Tatsunoko Productions (Psycho-Pass 2) 2005 seinen 40. Geburtstag feierte, gönnte man sich zur Feier des Jubiläums eine ganz besondere Produktion. Karas, eine für den Heimmarkt produzierte Veröffentlichung (OVA) mit sechs 30 Minuten-Folgen, die auf ganz neuartige Weise 2D- und 3D-Animation verschmelzen sollte. Regisseur Keiichi Satou (Black Butler) erschuf ein fantastisch überhöhtes Shinjuku, das dem Tokioter Innenstadtbezirk nahe kommt. Nur dass dort Menschen und Youkai, Geister, nebeneinander existieren und gepanzerte Dämonenkrieger sich zwischen den Wolkenkratzern und Straßenschluchten fulminante Duelle liefern. 2006 gewann Karas bei den Tokyo Anime Awards den Preis für die beste OVA. Nach Deutschland kam die Saga von den Schutzgöttern der Stadt und ihren dämonischen Mecha-Widersachern schon kurz darauf, bei Panini erschienen 2007 und 2008 je drei Folgen auf DVD. Nun hat Nipponart das preisgekrönte Werk erneut ins Rennen geschickt. seit dem 12. Juli 2019 ist Karas mit allen sechs Folgen als DVD und Blu-ray erhältlich.

Über dem nächtlichen Shinjuku tobt eine Luftschlacht: zwei Düsenjets fegen durch die Straßenschluchten, wandeln sich zu gepanzerten Schwertkämpfern, die aufeinander einschlagen, bis der eine zerhackt am Boden liegt. Bei Tag scheint alles normal, ein Fernsehsender schickt zwei junge Frauen in lustigen Froschkostümen zu einer Livesendung mit dem Thema “Wasserdämonen in Shinjuku – Kappas auf dem Männerklo?!” in eine öffentliche Toilette. Aber die Berichterstattung über das leichte Sommerthema nimmt ein schauriges Ende… Auf dem Dach eines fahrenden Zuges hat es sich jemand mit Decke und Kissen gemütlich gemacht, bis der Zug in Tokyo ankommt. Der Mann mit der Sonnenbrille und den zwei goldenen Revolvern, der mal sichtbar, mal unsichtbar ist, hat in Shinjuku offenbar noch eine Rechnung offen. Bei der Kriminalpolizei von Shinjuku übernimmt ein Zweierteam die Ermittlungen in einer rätselhaften Mordserie, bei der den Opfern sämtliche Körperflüssigkeit entzogen wird. Der junge Inspektor Kure hat als Partner ausgerechnet den von allen belächelten Kollegen Sagisaka erwischt, der fest an die Existenz von Youkai, Geisterwesen, glaubt. Und was ist mit dem Mädchen mit der Zuckerwatte-Frisur und der Skibrille, das irgendwie mythisch mit dem Wohl und Wehe der Stadt verbunden ist?

Verwirrende Handlung und urbane Mythologie

Karas (Anime Kritik): Rückkehr des urbanenen 2,5D-Mythos (3)
OriginaltitelKARAS
Jahr2005
Episoden6 (in 1 Staffel)
GenreFantasy, Action
RegisseurKeiichi Satou
StudioTatsunoko Productions

Wenn diese Zusammenfassung unübersichtlich und unzusammend klingt – das ist so. Das bleibt auch so. Es kommen noch einige Figuren mehr hinzu und irgendwie hängt auch alles miteinander zusammen, aber der Erzählstil macht es dem Betrachter nicht leicht, den roten Faden zu finden. Die Erzählung springt in der Zeit und von Handlungsstrang zu Handlungsstrang, ohne den Zuschauer, der in diese Welt geschubst wurde, an die Hand zu nehmen. Nur manchmal werden nachträglich in Dialogpartien gestopfte Erklärungen hinterhergeschoben, als hätte da jemand den Machern über die Schulter geschaut und gesagt: “Also, Jungs, DIE Information müsst ihr schon mal rausrücken!” Was sich herauskristallisiert, ist eine Mythologie dieser Welt: Jede Stadt hat eine Verkörperung ihrer Seele, die sich als Mädchen mit pastellfarbenem Haar manifestiert und Yurine genannt wird. Die Yurine beruft einen Menschen, der zum Karas (Karasu = Krähe), einem gepanzerten Kämpfer mit Vogelattributen und Beschützer der Stadt wird. Aber die Menschen vergaßen die Existenz der Geisterwesen, sodass ein Karas sich gegen seine Pflicht auflehnte und beschloss, die Menschen für ihre Arroganz und Dekadenz zu strafen. Die Youkai, die sich ihm anschlossen, wurden zu Mikura, Maschinenwesen, die in menschliche Gestalt wechseln können und Blut trinken müssen, um zu überleben. Seitdem bekämpft der Ex-Karas Eko mit seinen Mikura-Schergen die von seiner Yurine neu berufenen Karas und versucht, die Stadt an sich zu reißen.

Ein Stoff für Experimente

Hat man das begriffen, hat man zumindest eine Erklärung für die fliegenden Schwertkämpfer und die ausgetrockneten Leichen. Aber übersichtlicher wird es dadurch nicht. Als Zuschauer driftet man staunend durch ein magisch angehauchtes Shinjuku mit chinesischen, thailändischen und einfach nur merkwürdigen Attributen und folgt mal der einen, mal der anderen coolen Figur zu ihren Kämpfen und Seelenkonflikten. Alle sehen cool aus. Alle sind wunderbar cosplaybar, von der Stadtgöttin mit ihrem Lederjacke/Stiefel/Röckchen-Outfit und der schrägen Skibrille über die Kämpfer in ihren Rüstungen bis zu dem kleinen Regengeist mit Friesennerz und Schneckenhaus auf dem Rücken. Nun ging es bei der Entstehung von Karas nicht darum, eine besonders packende Story umzusetzen, sondern um ein Vehikel für Experimente mit 3D-Animation. Kein Wunder also, dass die Kunst des Geschichtenerzählens hier in den Hintergrund tritt. Hauptsache, es gibt genug Gelegenheit für optische Effekte. Ein Fantasy-Stoff wie dieser, wo traditionelle japanische Fabelwesen zu Maschinenkreaturen mutieren, lässt den Designern jede Menge Raum, ihrem Affen Zucker zu geben. Das hätte auch eine platte Aneinanderreihung von Effekten und Actionszenen an einem gängigen Handlungsfaden werden können. Insofern ist die bewusste Entscheidung für ein bruchstückhaftes, nichtlineares Erzählen vielleicht eine bessere Idee als ein allzu vorhersehbares Handlungsschema.

2D + 3D = ?

Aber kann Karas den Anspruch, ganz neue Wege zu beschreiten, wirklich einlösen? Eigentlich sieht 3D-Animation hässlich aus, zumindest war das 2005 noch so. Besonders, wenn sie neben 2D Animation steht. Ja, sie kann mehr als herkömmliche Animation. Aber sie sieht auch trashig aus. Diese Oberflächen, die wie Plastik aussehen. Diese Figuren, die so puppenhaft wirken, während 2D-Animation mit ein paar Strichen glaubwürdige Charaktere schafft. Bei Karas wird 3D-Animation neben 2D-Animation gestellt und auch im Bild eng miteinander verwoben, allerdings nach einem festen Prinzip: die Rüstungen der Kämpfer und die Maschinenwesen sind dreidimensional gestaltet, die anderen Figuren nicht. Weder die menschlichen Figuren, noch die possierlich-skurrilen Youkai. Bei den Hintergründen und Effekten ist es dem Auge irgendwann egal, was wie animiert wurde, bei den Figuren sieht man es stets deutlich. Aber der Stilbruch passt, statt zu stören, denn der Karas und sein Gegenspieler mit seinem Mecha-Gefolge sind magische Wesen, denen ein Tick Fremdartigkeit und Künstlichkeit gut steht und das nötige Maß an Bedrohlichkeit verleiht, das Kämpfer brauchen. Und die Kämpfe, die sie ausfechten, sind überhöhte, hochartifizielle Angelegenheiten jenseits jeglicher Realität, denen die Verfremdung durch 3D-Animation den nötigen epischen Wumms verleiht. Insgesamt eine etwas gewöhnungsbedürftige, aber sehr gelungene Kombination.

Solide Ausstattung mit kleinen Mängeln

Die Blu-ray von Nipponart enthält alle sechs Folgen, insgesamt 180 Minuten Spielzeit. Verfügbare Sprachen sind Japanisch und Deutsch, sowie deutsche Untertitel. Die deutsche Synchronisation wirkt flüssig, passend und angenehm zu hören. Leider sind ein paar vermeidbare Ausspracheschnitzer dabei. So schwer kann es doch nicht sein, zu recherchieren, wie man “Shinjuku” ausspricht? Nämlich nicht “Shinyuku”? Hinter “Extras” findet sich jede Menge Bonusmaterial: Ein zweiteiliges Feature über den Werdegang des Projekts Karas, in dem die Mitwirkenden zu Wort kommen, drei Kapitel mit den Themen “Youkai Design”, “Charakter Design” und “Figuren und Schauplätze”, die alle viel ergänzendes Bildmaterial liefern, ein fünfteiliges Making-Of und ein Mitschnitt einer Pressekonferenz anlässlich des Starts von Karas in Japan. Die vielen Interviews sind deutsch untertitelt. Leider wirken die Untertitel manchmal abgerissen und bruchstückhaft. Hinzu kommt, dass Einblendungen wie etwa “Keiichi Satou, Regisseur” im gleichen Schrifttyp und in einem Textblock mit den Untertiteln der Interviews erscheinen, was das Mitlesen mühselig macht, weil man immer wieder aus dem Satzfluss gerissen wird und eine Zeile nach unten springen muss, um das Interview weiter zu verfolgen. Unelegant gelöst ist auch die Einbindung der einzelnen Specials, ist ein Kapitel zu Ende, wird man nicht zurück ins Hauptmenü geleitet, sondern die Wiedergabe wird abgebrochen, man muss die Blu-ray neu starten und sich durch das Menü zum nächsten Kapitel hangeln. Alles nettes Extra liegen in der Schachtel zwei Sticker im Postkartenformat, mit den Motiven der Vorder- und Rückseite, ohne Schriftzüge.

Fazit

Einen Preis für subtile Charakterschilderung oder stringente Handlungsführung gewinnt Karas wahrlich nicht. Wer nicht-lineares Erzählen mag und damit leben kann, dass er nicht alles erklärt bekommt, der hat möglicherweise Spaß daran, sich die sechs Folgen immer wieder anzuschauen und zu entschlüsseln, was da eigentlich passiert. Oder die Specials anzuschauen und dort auf Erklärungshäppchen zu hoffen. Oder es einfach dabei zu belassen, dass man sechs Folgen lang prächtigsten Eye Candy präsentiert bekommt, mit Figuren, die viel Bildschirmpräsenz haben, einer wunderbar ins Phantastische verschobenen Stadtlandschaft und krachenden Kämpfen, bei denen das Experiment mit den verschiedenen Animationstechniken richtig gut aussieht. Zusammen mit dem umfangreichen Bonusmaterial hat man eine pralle Tüte visueller Reize auf einer silbernen Scheibe vereint.

Vielen Dank anNipponartfür die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.
Die Rezension unterlag keinen inhaltlichen Vorgaben und spiegelt lediglich die Meinung des Autors wider.

Karas (Anime Kritik): Rückkehr des urbanenen 2,5D-Mythos (2024)
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