"Mein Großvater hätte mich erschossen" (2024)

Frank Meyer: Amon Göth, der Kommandant des Konzentrationslagers Plaszow, steht auf dem Balkon seiner Dienstvilla und erschießt zum Spaß jüdische Häftlinge. So zeigt ihn der Film "Schindlers Liste" von Stephen Spielberg, und das hat Amon Göth tatsächlich getan. Die Hamburgerin Jennifer Teege war 38 Jahre alt, als sie entdeckt hat, dass Amon Göth ihr Großvater ist. Sie hat ein Buch über diese Entdeckung und ihre Familiengeschichte geschrieben, "Amon. Mein Großvater, hätte mich erschossen", so hat sie dieses Buch genannt. Jennifer Teege ist jetzt in Hamburg für uns im Studio. Frau Teege, seien Sie herzlich willkommen!

Jennifer Teege: Guten Tag

Meyer: Warum meinen Sie das, dass Ihr eigener Großvater Sie erschossen hätte?

Teege: Ich bin ganz anders. Ich bin wahrscheinlich ganz anders, als man sich die Enkelin von Amon Göth vorstellt. Das hängt schon mit meiner äußeren Erscheinung zusammen. Mein Vater ist Nigerianer, und meine Hautfarbe ist dunkel. Ich glaube, dass ich zu dieser Zeit, so wie wahrscheinlich jeder, ein Opfer der Willkür hätte werden können. Ich bin aber auch innerlich, nicht nur äußerlich, ganz anders als er. Denn Werte, zentrale Werte wie Menschlichkeit, bedeuten mir sehr viel.

"Es war ein Schock"

Meyer: Sie haben so spät erfahren, dass der KZ-Kommandant Amon Göth Ihr Großvater ist, weil Ihre leibliche Mutter, Monika Göth, Sie zur Adoption freigegeben hatte. Und danach hatten Sie nur noch wenig mit Ihrer ursprünglichen Familie zu tun. Wie war das, in diesem Moment, als Sie 38 Jahre alt waren, als Sie erfahren haben, Amon Göth ist mein Großvater. Was war das für eine Erfahrung für Sie?

Teege: Es war ein Schock, wobei man unterscheiden muss: Es waren zwei Dinge, die mich bewegten. Das erste war die Tatsache, dass es ein Buch, eine Biografie über meine Familiengeschichte gab, von der ich nichts wusste. Das andere war der Inhalt, nämlich die Tatsache, dass mein Großvater Amon Göth war. Diese beiden Dinge zusammen führten dazu, dass ich eine Art Trauma erlitten habe. Es ging mir am Anfang sehr schlecht, ich hatte sicherlich ein halbes Jahr lang ganz viel geschlafen, weil ich so erschöpft war durch diese Neuigkeiten, die auf mich eingeprasselt sind. Ich habe das Buch in einer Bücherei gefunden, zufällig zog ich es aus dem Regal. Ich hatte keinerlei Vorahnung, obwohl, wenn man mein Leben rückblickend betrachtet, es viele Dinge gibt, die sich heute in dieses große Bild fügen. Ich habe beispielsweise in Israel studiert, ohne das Wissen um meine Familiengeschichte. Und ich spreche sogar hebräisch.

Meyer: Sie haben ja Ihren Großvater natürlich nicht mehr gekannt, er wurde 1946 in Polen hingerichtet. Er wurde fast gelyncht vorher, weil er dort so verhasst war wegen seiner Verbrechen. Sie haben ihn nicht kennengelernt, aber Sie haben Ihre Großmutter gekannt. Für Sie war das eine liebevolle Großmutter, sie war aber die Geliebte und Lebensgefährtin von Amon Göth. Wie schauen Sie heute auf Ihre Großmutter, auf dieses Bindeglied zu Ihrem Großvater Amon Göth?

Teege: Meine Großmutter war zentral, denn als Kind hatte ich wenig Bindungen. Ich bin mit meiner leiblichen Familie nur in Kontakt gewesen bis zum Alter von sieben Jahren und dann bei einer Adoptivfamilie groß geworden. Aber ich hatte sehr gute Erinnerungen, sehr warme Erinnerungen an meine Großmutter. Und dieses Bild, was ich als Kind hatte, es stellte sich mir die Frage, wer ist diese Frau? Diese Frau, die ich mochte. Wie konnte sie gleichzeitig in der Lage sein, in einem KZ an der Seite von Amon Göth zu leben? Das waren ganz schwierige Fragen, auf die ich lange gebraucht hab, bis ich eine Antwort gefunden habe. Es war eine Auseinandersetzung, die in erster Linie auf der Couch eines Therapeuten stattgefunden hat, aber auch eine Auseinandersetzung, die sich in dem Buch weiter prägt. Ich möchte dem Leser verständlich machen, wie wichtig es ist zu erkennen, dass der Mensch nicht nur aus guten oder nicht nur aus schlechten, sondern aus schlechten und guten Seiten besteht und dass es wichtig ist, den Menschen ganzheitlich zu betrachten.

"Ich halte das für den falschen Weg"

Meyer: Ganz wichtig ist natürlich für diese Frage, wie Sie zu Ihrer leiblichen Familie gehören, Ihre eigene Mutter, Monika Göth, die sich mit ihrem Vater, Amon Göth, durchaus auseinandergesetzt hat, sie ist nach Krakau gefahren, hat dort mit Holocaust-Überlebenden gesprochen, die mit Ihrem Großvater zu tun hatten, ihm fast zum Opfer gefallen sind. Sie hat sich befragen lassen für Dokumentationen über Amon Göth. Aber das ganz Erstaunliche ist nun, dass Ihre Mutter mit Ihnen, mit ihrer Tochter, nie darüber gesprochen hat. Wie erklären Sie sich das?

Teege: Ich hatte viele Jahre keinen Kontakt zu meiner Mutter, und die Intention war, mich zu schützen. Denn sie dachte, das Wissen würde mich belasten, und es wäre besser, ohne dieses Wissen aufzuwachsen. Ich halte das für den falschen Weg, rückblickend betrachtet, denn ich weiß, dass es für mich nicht immer leicht war und ich lange Zeit Schwierigkeiten hatte, eine eigene Identität zu entwickeln. Heute versuche ich, einen Weg zu gehen, der transparent ist und offen, weil ich selbst zwei Kinder habe. Und ich möchte, dass sie anders aufwachsen.

Meyer: Deutschlandradio Kultur, wir sind im Gespräch mit Jennifer Teege über ihr Buch "Mein Großvater hätte mich erschossen". Der KZ-Kommandant Amon Göth war ihr Großvater. Würden Sie tatsächlich von heute aus sagen, Sie hätten es gerne früh gewusst, vielleicht schon als Kind, dass Ihr Großvater Amon Göth war?

Teege: Selbstverständlich! Es ist wichtig, ein Wissen zu haben um die Hintergründe der eigenen Herkunft. Wer mit einem Familiengeheimnis von so einer Tragweite aufwächst, der wird mit Sicherheit im Leben Schwierigkeiten haben. Denn so etwas wirkt toxisch. Es ist etwas, was im Verborgenen wirkt und deshalb umso stärker.

"Eine Ironie des Schicksals"

Meyer: Sie schreiben auf der anderen Seite aber auch, dass manches in Ihrem Leben nicht möglich gewesen wäre, wenn Sie die Wahrheit über Ihre Herkunft gekannt hätten, zum Beispiel Ihr Leben in Israel, sie haben vier Jahre dort gelebt. Das hätte unter ganz anderen Vorzeichen gestanden, wenn Sie das über sich gewusst hätten.

Teege: Das ist richtig. Ich glaube aber nicht, dass es ein Ausschlusskriterium gewesen wäre. Es wäre anders gewesen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass durch das Lüften, durch das Entdecken des Familiengeheimnisses sich für mich ein neuer Weg aufgetan hat und ich eine neue Freiheit bekommen habe. Nämlich das erste Mal in meinem Leben ein Leben, das nicht mitbestimmt ist von Depressionen. Die gehören der Vergangenheit an.

Meyer: Sie haben ja lange gebraucht, man kann das sehr gut verstehen, um Ihren Freuden in Israel erzählen zu können, dass Sie die Enkelin von Amon Göth sind. Welche Erfahrungen haben Sie dann gemacht, als Sie Ihren Freunden in Israel erzählt haben, ich bin die Enkelin dieses KZ-Kommandanten?

Teege: Ich hatte eine große Scheu, weil ich mir nicht sicher war, was das in ihnen auslösen würde. Weniger, dass ich Ablehnung erfahren würde, aber dass Gefühle hochkommen, die ganz schwer auszuhalten sind. Deshalb wird in den Familien, in den Opferfamilien auch häufig über den Holocaust nicht gesprochen oder zu wenig gesprochen. Meine Freunde, als ich ihnen dann davon erzählt habe, haben mich mit offenen Armen aufgenommen und mit mir gefühlt, was eine Ironie des Schicksals ist. Heute sind wir uns durch das Wissen, das wir teilen, noch näher, und ich habe das Gefühl, dass sie das sehen, was ich bin, nämlich nicht nur die Enkelin von Amon Göth, sondern ihre gute alte Freundin Jenny. Und das ist das, was wichtig ist.

Meyer: Sie schreiben in Ihrem Buch, "Ich weiß, dass ich nicht so leben will wie meine Mutter, in der Vergangenheit verhaftet, immer im Schatten von Amon Göth". Wenn Sie nun über dieses Buch sprechen, wie jetzt gerade mit uns, dann sprechen Sie natürlich auch über Ihren Großvater, über diese Verbindung zu ihm, zu Ihrer Familie. Hilft das Buch trotzdem dabei, aus seinem Schatten herauszukommen?

Teege: Ich spreche über die zweite Generation. Und ich gehöre der dritten Generation an. Für die zweite Generation war es unendlich viel schwieriger, weil sie noch eine dichtere Bindung auch an Personen aus dieser Zeit hatten. Heute sind die meisten Zeitzeugen verstorben. Ich hab eine neue Freiheit allein aus diesem Grund heraus. Was wichtig für mich war, um loslassen zu können, war eine Reise nach Krakau. Dort bin ich an das Mahnmal gegangen und hab Blumen niedergelegt für die Opfer, weil ich ein äußeres Zeichen setzen wollte, das es mir erlaubt, innerlich loszulassen, also zu sagen, es ist Vergangenheit, ich habe mich damit auseinandergesetzt, aber jetzt muss der Blick sich nach vorne richten. Und das ist wahrscheinlich der Unterschied zu vielen Vertretern der zweiten Generation, die das nicht geschafft haben, sondern sich ihr Leben lang geißeln.

Meyer: Sie sind auch ein zweites Mal nach Krakau gefahren, dann in Begleitung einer israelischen Schulklasse, und haben mit diesen israelischen Jugendlichen zusammen dort an dem Mahnmal gestanden, dem Mahnmal für das Konzentrationslager, das Ihr Großvater kommandiert hat. Was hat das für Sie bedeutet, dieses gemeinsame Gedenken mit Jugendlichen aus Israel?

Teege: Das war sehr schön, insbesondere deshalb, weil ich das erste Mal allein war. Und dieses Mal war ich in Begleitung beziehungsweise in einer Gemeinschaft mit den Opfern zusammen, und sie haben mir erlaubt, in ihrem Namen Blumen abzulegen. Und das war etwas ganz Besonderes für mich.

Meyer: Jennifer Teege. Ihr Buch heißt "Amon. Mein Großvater hätte mich erschossen". Sie hat es zusammen mit der Journalistin Nikola Sellmair geschrieben. Das Buch ist im Rowohlt-Verlag erschienen. Frau Teege, ich danke Ihnen sehr für dieses Gespräch!

Teege: Ich danke für die Einladung!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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